Briefkasten-Hymne

Mit Briefkästen ist es wie mit Menschen: Es gibt bedeutende und unbedeutende. Und wenige, die gleich sind. Einer der bedeutendsten Briefkästen im Landkreis ist vorne an der Ecke am Uelzener Bahnhofspostgebäude. Entsprechend seiner Bedeutung „ist" er aber nicht nur, er thront. Denn, während gewöhnliche Briefkästen meist an einer Wand hängen, steht dieser lang und breit und hoch wie ein Sockel auf der Erde. Er thront. Er ist derart bedeutend, dieser Bahnhofsbriefkasten, daß ein begleitender Briefkasten gleich danebensteht, sozusagen sein Bodygard, oder Assistent. Selbst wenn Assistenten arbeitsmäßig völlig überflüssig sind - sie sind für das Prestige von dem sehr wichtig, denn sie assistieren. Wer die Bedeutung dieses Superbriefkastens nicht gleich erkennt, für den kündigt eine Tafel hinter dem Kasten an der Posthausmauer, wie rasant schnell und vorteilhaft die Nutzung dieses bevorzugten Briefkastens ist: Steckt man den Brief bis 24 Uhr ein - dann ist er bereits morgens in Hamburg oder gar weiter. Außerdem: Die wichtigsten Briefkasten-Nutzer Uelzens treffen sich hier am wichtigsten Briefkasten Uelzens. Noch spät abends fahren sie hier vor: Die wichtigsten Schreiber wichtigster Botschaften, die eben exakt und sicher und besonders schnell besonders wichtige Adressanten am nächsten Tag erreichen sollen. Der hohe Rang eines solchen Kastens wird wie beim Menschen durch das Rangabzeichen ausgewiesen (roter Punkt). Gewöhnliche Briefkästen tragen dagegen keine Rangabzeichen und stehen, thronen, residieren nicht auf der Erde. Sie hängen irgendwo rum

Und dies tun sie - wie die Menschen, die rumhängen - besonders zahlreich. Einer davon ist in Brockhöfe. Dort hängt er Tag und Nacht und fristet ein dörfliches Dasein, träumt von der großen weiten Welt am Uelzener Bahnhof und von den dortigen entfernten berühmten Verwandten. Bei diesem unauffälligen, bescheidenden Briefkasten dritter Klasse in Brockhöfe will ich mich entschuldigen, will ihn hiermit befördern und eine Hymne auf ihn schreiben. Denn dieser Briefkasten (an einer Kreisstraße unterer Ordnung) ahnt gar nicht, um wieviel besser, schneller, verlässlicher und damit aristokratischer er ist als diese Angeber in Uelzen. Bevor ich den Kasten in Brockhöfe kannte, bildete ich mir viermal nacheinander ein, für meine wichtige Post für Frau Sieg in Hamburg den wichtigsten Briefkasten - den in Uelzen - benutzen zu müssen. Viermal (nacheinander) kam nichts an in Hamburg obwohl ich den Superbriefkasten nicht um 1 Uhr, sondern um jeweils acht und neun Uhr abends gefüttert hatte. Dagegen der Brockhöfer Kasten! Mutlos kam ich mit einem wichtigen Brief montagmorgens um 3 Uhr durch Brockhöfe, grübelte, wie ich diesen Brief am Mittwochmorgen sicher in Hamburg bei Frau Sieg wusste. Es hätte ebenso wenig Sinn gemacht, nach Uelzen zu jagen. Aber er schafft es dieser kleine bescheidene landwirtschaftliche Briefkasten in Brockhöfe! Am nächsten Tag rief eine glückliche Frau Sieg aus der Hochschule an und lehrte mich, was ich als Mensch von mir und als Kenner anderer Menschen hätte wissen sollen: Trau nicht dem Schein (am Bahnhofssuperkasten), trau dem Sein (in Brockhöfe).

30. April 1996